Sonntag, 5. Januar 2014

Willkommen in der schönen, neuen Welt


Die Revolution steht uns bevor. Eine gesellschaftliche Revolution, die wir – seit die Systemfrage vor inzwischen 24 Jahren entscheiden wurde – in dieser Wucht nicht mehr erwartet haben. Fanboys und Optimisten preisen am Vorabend der Revolte die Chancen für Beruf, Alltag und soziale Interaktion, die sich mit „Datenbrillen“ ergeben. Kritiker sprechen einhellig von der kühnen Abschaffung der Privatsphäre und sehen sich ins Jahr 1984 transponiert. Im persönlichen Praxistest der „Google Glass“ deutet sich an, wohin die Reise tatsächlich geht.





Die ersten Schritte sind ungewohnt; die Gefühle in der Magengegend sind wohl am ehesten mit Aufregung  zu beschreiben. Schnell ist das Datenprisma den individuellen Blickwinkeln angepasst. Man fühlt sich wie ein Kreuzritter des Fortschrittes, der – statt in edler weißer Rüstung – nicht sein eisernes Visier richtet, sondern den ersten Schritt zum Cyborg vollzieht. Auf den ersten Blick wirkt die „Google Glass“ tatsächlich einer Star-Trek-Verfilmung der 1980er-Jahre entsprungen. Die Innenansicht offenbart den modernen Stand der Technik, die sich mittlerweile bereits in Fernbedienungen und Waschmaschinen befindet. Eine Dual-Core-CPU, zwei Kameras, WLAN und einige weitere Kleinigkeiten. Am Auffälligsten sind das Daten-Prisma, auf dem die Mediendaten visualisiert werden, sowie die Tonübertragung durch Knochenschall. Dadurch ist es möglich, ohne Kopfhörer Töne direkt in das Innenohr zu senden.


Neue Freiheiten

Gesteuert wird die „Google Glass“ – die erst in Kombination mit einem Smartphone ihr volles Potenzial entfalten kann – mit Sprachkommandos. Da die Brille offiziell derzeit nur einem kleinen Kreis ausgewählter Tester in den USA zur Verfügung steht beschränkt sich die Spracherkennung auf ein amerikanisches Englisch. Mit einem Antippen des Touchpads auf der rechten Bügelseite, gefolgt von einem simplen „Ok glass“, erwacht die Brille aus ihrem energiesparenden Dornröschenschlaf. Der Funktionsumfang reicht von Foto- und Videoaufnahmen über Navigation, einfache Google-Websuche und Videotelefonie hin zu einem Textübersetzer. Sprachprobleme im Urlaubsland gehören der Vergangenheit an. Man sieht auf einen Satz, die eingebaute Kamera filmt ihn, erkennt ihn, übersetzt ihn und blendet das Ergebnis im Sichtfeld ein – innerhalb von Sekundenbruchteilen.
Weitere Applikationen können jederzeit installiert werden. Avanciert die Brille zum kommerziellen Markterfolg dürften den Fantasien der Softwareentwickler keine Grenzen gesetzt sein.


Alte Ängste

Doch mit genau diesen Fantasien beginnen die Probleme. Die DDR hat eindrucksvoll gezeigt, dass es sich für einen Staat nicht rentiert, die eine Hälfte der Bevölkerung für die Überwachung der anderen Hälfte zu bezahlen. Interessant wird es jedoch, wenn die Überwachung ausgelagert und direkt selbst von den Bürgern übernommen werden kann. In Zeiten, in denen Schlagwörter wie „NSA“ und „Privatsphäre“ durch die Medienblätter geistern, stimmen zwei Hochleistungskameras inkl. Mikrofon, die in einem Brillengestell edel verpackt sind, misstrauisch. Befeuert wird dieser Argwohn durch Googles ungeschickte PR-Strategie. Wieso Google seit 18. Dezember 2013 – am Höhepunkt der Privatsphärendebatte – seinen Brillen eine Funktion spendiert, durch die Fotos nicht nur mit dem öffentlich hörbaren Sprachkommando „Ok glass, take a picture“ geschossen werden können, sondern nun ein längeres Augenzwinkern ausreicht, bleibt ein Rätsel. Die Tatsache, dass die gesamte Kommunikation der Datenbrille ausschließlich über Googles eigene US-Server läuft, ist ebenfalls nicht als zufällig zu interpretieren. Die Brille verfügt über einen eingebauten Speicher, von denen 12 GB nutzbar sind. Google synchronisiert alle Mediendaten unverzüglich mit „Google Drive“, der Google Cloud. So wird einerseits knapper Speicherplatz auf der Brille gespart, andererseits liegen alle geschossenen Bilder direkt auf Servern in den Vereinigten Staaten. Ob und wie diese Daten ausgewertet werden, beziehungsweise wer darauf Zugriff hat, bleibt das Geheimnis des Großkonzerns.


Viele Risiken, viele Chancen

In allen bisherigen Artikeln über diese neue Generation der „Datenbrillen“ vermisst man eines: Ein klares Bekenntnis für oder gegen den Einsatz dieser Technik. Es ist einfach, in einer endlosen Auflistung über Vor- und Nachteile zu sinnieren und sich am Ende zu einem „Jein“ durchzuringen. Nach unzähligen Diskussionen, auf Basis meiner persönlichen Eindrücke und meiner technischen Erfahrung als Softwareentwickler ist meine Schlussfolgerung: Ja!
Die Chancen, die sich – menschlich, wirtschaftlich, im Bereich der Bildung – ergeben, indem Information derart präsent und individuell aufgearbeitet wird, sind immens. Diese Brillen verändern nicht nur unseren Umgang mit Wissen, sondern haben das Potenzial, unser alltägliches Leben qualitätsvoll zu verbessern.

Die offenen Fragen müssen angesichts dessen umso dringender geklärt werden. Eine neue Form der Transparenz, welche Daten gesammelt, ausgewertet und zugänglich gemacht werden, ist unabdingbar. Die Diskussion auf politischer Ebene, ob – bei einer angenommen Massenverbreitung von 10 % - das damit aufgespannte Netz mobiler Videokameras von Staatsorganen für Fahndungen verwendet werden darf, wird uns eingies abverlangen. In einer Welt latenter Terrorismus-Hysterie, in der die Grenzen zwischen berechtigter Privatsphäre und gerechtfertigtem staatlichen Interesse seit 13 Jahren immer mehr verschwimmen, kommen wir um eine Neudefinition nicht herum. Augenscheinlich ist: Unser Misstrauen gegenüber den technischen Möglichkeiten spiegelt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Regierungen, Geheimdiensten und internationalen Großkonzernen wieder. Dieses Misstrauen wird nicht aufgelöst, indem wir uns hervorragenden technischen Entwicklungen wie der „Google Glass“ verweigern. Die Fehlentwicklung, auf die wir ängstlich wie ein Kaninchen auf die Schlange starren, liegt auf politischer Ebene, nicht in der Technik. Gelingt es uns als Gesellschaft nicht, eine Trendwende herbeizuführen, sind die kommenden Silvesterpartys nutzlos. Dann sitzen wir im Jahr 1984 fest

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