Science-Fiction als Realität im Jahr 2014. Im Fokus steht
Googles Datenbrille, angesiedelt zwischen der Banalität eines Smartphones und
dem Gottseibeiuns der Datenschutzcommunity. Im dreimonatigen, persönlichen Intensivtest
zeigt sich die „Google Glass“ immens gefährlich – und beängstigend hilfreich.
Es läuft nicht gut. Eine technikbegeisterte Bekannte sitzt mir beim Nachmittagscafé gegenüber und belauert missmutig jede meiner Augenbewegungen. Seit sie eben selbst testen konnte, welche faszinierenden Schnappschussmöglichkeiten eine „Google Glass“ bietet, ist die Stimmung emotional angespannt. Ich merke, wie ich in ihrer Charakterwertung vom hippen Technik-Trendsetter zum schrulligen Halb-Stalker mutiere. Mein Einwand, dass es idiotisch und hirnrissig sei, jemanden heimlich zu filmen, wird geflissentlich überhört. Auch mein Hinweis, dass – falls jemand wirklich heimlich filmen möchte – man mit 19€ Knopflochkameras besser bedient wäre als mit einer 2.000€ Datenbrille, trägt nicht zur Verbesserung der Situation bei. Als ich mich weigere die Brille abzunehmen – schließlich will ich sie auf ihre Alltagstauglichkeit testen und die Grenzen ausreizen – verabschiedet sie sich knapp und verlässt das Café.
Ich denke
mir, dass dies wohl der Preis sei, den ein Early-Adopter als Kreuzritter des
Fortschritts zu zahlen hat. Beängstigender Weise gab es in den letzten drei
Monaten nur eine Handvoll solcher ablehnenden Erfahrungen.
„Die
Datenbrille ‚Google Glass‘ ist weltweit nur einer kleinen Zahl von Testern
zugänglich. In Österreich existieren derzeit eine Handvoll.“
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Information wird präsenter
Technisch
orientiert sich die „Google Glass“ auf den ersten Blick an gewöhnlichen
Smartphones des Jahres 2011. Ein Dual-Core-Prozessor, 12 GB verfügbaren
Speicher und einige Verbindungsmöglichkeiten wie WLAN oder Bluetooth sorgen
nicht unbedingt für Begeisterungsstürme. Ihr volles Potenzial entfaltet die
Datenbrille erst in Kombination mit einem Smartphone – Internetzugang,
GPS-Ortung und Sprachtelefonie laufen ausschließlich über das gekoppelte Handy.
Auffällig ist die unkonventionelle Idee, altbekannte Technik in ein
Brillengestell zu verpacken. Anstatt auf ein Handydisplay blickt man auf ein
durchsichtiges Prisma, das im oberen, rechten Blickwinkel platziert ist. Fotos,
Tweets oder Textnachrichten können so angesehen werden, ohne das Telefon aus
der Hosentasche zu holen. Man bekommt dadurch zwar nicht mehr Informationen –
bedingt durch die Displayauflösung von 640 mal 480 Pixel eher weniger – aber
diese eben schneller und origineller präsentiert.
Viel mehr
als Landschaftsfotos zu knipsen, Kurzfilme zu drehen, einen Textübersetzer zu
versuchen, Musik zu hören und sich durch die Straßen navigieren zu lassen ist
derzeit nicht möglich. Die derzeitige „Google Glass 2.0 – Explorer Edition“ ist
ohnehin nur für Softwareentwickler interessant und dient dazu, Programmideen zu
sammeln und rechtzeitig vor dem offiziellen Marktstart zu realisieren. Wenn man
sich sein eigenes Smartphone ohne Apps vorstellt hat man einen guten Einblick,
in welchem Entwicklungsstadium sich die Datenbrille derzeit befindet.
Eine gesellschaftliche Revolution steht uns bevor
Doch wir
sollten uns nicht täuschen lassen. Dieses derzeitige Fehlen von Applikationen
sind nur kleine Schlaglöcher auf der Datenautobahn zur Marktbeherrschung. In
weniger als 48 Monaten wird die Applikationsfülle jenes Ausmaß erreicht haben,
das wir von Apples iTunes oder Googles PlayStore für unsere Smartphones kennen.
Google offeriert den Softwareentwicklern nahezu alles, was sie sich wünschen:
Unkomplizierten Zugang zu Schnittstellen, eingebettet in ein technisch
einwandfreies Komplettangebot.
Die
gesellschaftlichen Auswirkungen, die Veränderungen für unseren Alltag, sind
bereits jetzt – nach einem dreimonatigen Intensivtest – spürbar. Alles, was wir
unter Privatsphäre verstehen und als Selbstverständlichkeit hinnehmen, steht
zur Disposition. Lediglich, wir führen diese Diskussion nicht. Größter
Kritikpunk ist die Kamera auf der Frontseite, die – auch bei widrigen
Lichtverhältnissen – Fotos in bestechender Qualität aufnimmt. Es ist für
Außenstehende unmöglich zu erfassen, ob die Kamera gerade aktiv ist oder nicht.
Es gibt weder eine Status-LED, die bei Aktivität leuchtet, noch eine
geschlossene Iris, wie wir sie von einigen Digitalkameras kennen. Der „Chaos
Computer Club“ demonstrierte, dass es möglich ist, von außen auf die Kamera
zuzugreifen und – auch für den Brillenträger unbemerkt – Fotos und
Videoaufnahmen abzugreifen. Bei einer statistischen Verbreitung von 5 % hätten
wir damit ein flächendeckendes, mobiles Videoüberwachungsnetzwerk aufgezogen.
Staatliche Ermittlungsbehörden, Hacker, Google selbst – jeder, der sich
anschickt Zugriff zu erhalten – hat damit in Kombination mit einer
Gesichtserkennungssoftware das Potenzial, Profile zu kreieren, die 1984 weit
hinter sich lassen. Man muss die Datenbrille nicht selbst tragen, es genügt,
wenn es andere tun. In vertraulichen Gesprächen mit Versicherungsunternehmen
deutet sich bereits an, wohin die Reise gehen könnte. Wenn
Gesundheitsversicherte angeben, einen gesunden Lebensstil zu pflegen, aber von unterschiedlichen
Datenbrillenbenutzern um 11:37 Uhr beim Kebabstand, um 11:59 beim Würstelstand
und im Anschluss bei zwei Stück Sachertorte gefilmt werden, ist dies für die
Berechnung der monatlichen Prämie nicht uninteressant. Das Hochleistungsmikrofon
– mit dem die Sprachsteuerung der Brille qualitativ ermöglicht wird – ist für
diese Profile ein interessanter Mosaikstein. Im Moment ist die Datenbrille fast
ausschließlich im Standby-Modus. Erst durch eine händische Aktivierung durch
einen Druck auf das Touchpanel wird das Mikrofon aktiv und reagiert auf das
Signalwort „OK GLASS“. Eine energiesparende Verlegenheitslösung, da ansonsten
der Akku innerhalb kürzester Zeit aufgebraucht wäre. Bei einer entsprechenden
Weiterentwicklung der Kapazitäten steht dem Dauerscan technisch nichts im Wege.
Private Meinungsäußerungen, kritische Diskussionen, politische Debatten – in
Anwesenheit eines Datenbrillenträgers zu sprechen kann leicht als Spitzel- und
Denunziantentum (fehl)interpretiert werden. Als Maßstab sollte hier nicht der
sichere Hafen europäischer Demokratie in Friedenszeiten gelten. Wir müssen den
Blick auch nicht nach Nordkorea schweifen lassen. Türkei und Ukraine genügen.
Wirtschaftliche Goldgräberstimmung trotz banaler Probleme
Die
Tourismusbranche erahnt das Potenzial der „Google Glass“. Ich habe bereits eine
Machbarkeitsanfrage für eine „Wanderweg-Applikation“ erhalten. Man wählt
zwischen mehreren Wanderrouten – gestaffelt nach Dauer und Schwierigkeitsgrad –
und wird durch die GoogleMaps-Integration sicher durch die Landschaft
navigiert. An definierten Punkten werden – durch GPS-Lokalisierung - Audiokommentare
eingespielt, per Augenzwinkern können Fotos geschossen werden. Bei der Rückkehr
in den Buschenschank erwartet einen bereits ein ausgedrucktes Bilderbuch mit
den schönsten Wanderimpressionen.
Der
Ausbildungsbereich steht vor massiven Umbrüchen. Man muss sich künftig noch
weniger auf sein eigenes Wissen verlassen. Informationen werden intuitiv
gegoogelt und die Antworten im Sichtfeld eingeblendet. Bei mathematischen
Formeln blickt man auf den Zettel und erhält die Lösung, bei Fremdsprachen die
deutsche Übersetzung. Einsätze in der Hotellerie und bei Airlines werden gerade
im Feldversuch erprobt.
Es gibt
eine Vielzahl von banalen Problemen, die den Alltagseinsatz erschweren.
Bargeldbehebungen am Bankomat werden mit aufgesetzter Brille zum
Misstrauensakt. Da die Kamera genau auf das Nummernfeld gerichtet ist ertappt
man sich dabei, wie man den Pin-Code bei der Eingabe vor sich selbst verdeckt.
Für nächtliche Kneipen- und Discothekentouren ist die Datenbrille kein
hilfreicher Begleiter. Die mitternächtliche, alkoholgeschwängerte Stimmung an
der Pissoir-Wand in der Männertoilette, wenn man mit aufgesetzter Kamera in
Reih und Glied steht, ist – gelinde gesagt – gereizt.
Ich sehe was, was du nicht siehst
Wir
befinden uns inmitten der technischen Realisierung dieses Kinderspiels. Eine
Gesichtserkennung ist zwar aktuell die von Google gezogene „rote Linie“ –
sowohl für den Großkonzern selbst, als auch für Softwareentwickler, die ihre
Programme offiziell vertreiben wollen. Inwieweit diese Selbstkasteiung von
Dauer ist bleibt angesichts des immensen Marktpotenzials fraglich. Wir sind
hier auf gegenseitiges Vertrauen angewiesen.
Nicht
förderlich für dieses Vertrauen ist die Tatsache, dass die gesamte
Kommunikation der Datenbrille über Googles US-Server läuft. Jegliche
Interaktion zwischen externen Webanwendungen und der Google Glass passiert
Googles Datencenter – ein Ausschluss des amerikanischen Datensammlers ist
derzeit nicht möglich. Sämtliche Fotos auf der Brille werden, bei verfügbarer
Internetverbindung, unverzüglich mit der Google Cloud synchronisiert.
Offiziell, um den knapp bemessenen Speicherplatz auf der Brille zu sparen.
Gerüchte, was inoffiziell mit diesen Bildern passiert, wuchern auf dem
Nährboden der NSA-Spionageaffäre. Da die Brille mit einem Google-Account
aktiviert und verbunden werden muss, lässt man sich vollständig auf das Angebot
des US-Multis ein. Youtube für Vidoes, GMAIL für E-Mails, Google für
Suchanfragen, GoogleMusic für Songs – eine Synchronisierung der Telefonkontakte
inklusive.
Die
technologische Evolution durch Datenbrillen ist, analog zum Siegeszug der
Smartphones, nicht aufzuhalten. Zu nützlich, zu intuitiv und lässig gestaltet
sich eine Massenintegration in den Alltag. Umso dringender brauchen wir eine
politische Debatte auf europäischer Ebene, falls wir irgendetwas aus Edward
Snowdens Enthüllungen gelernt haben. Falls diese gesellschaftliche Diskussion
ausbleibt und wir die Verantwortung an die Softwareentwickler delegieren – was
technisch möglich ist, wird gemacht und genutzt – sind Silvesterpartys sinnlos.
Dann sitzen wir im Jahr 1984 fest.
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