Die Revolution steht uns bevor. Eine gesellschaftliche Revolution, die wir – seit die Systemfrage vor inzwischen 24 Jahren entscheiden wurde – in dieser Wucht nicht mehr erwartet haben. Fanboys und Optimisten preisen am Vorabend der Revolte die Chancen für Beruf, Alltag und soziale Interaktion, die sich mit „Datenbrillen“ ergeben. Kritiker sprechen einhellig von der kühnen Abschaffung der Privatsphäre und sehen sich ins Jahr 1984 transponiert. Im persönlichen Praxistest der „Google Glass“ deutet sich an, wohin die Reise tatsächlich geht.
Die ersten Schritte sind ungewohnt;
die Gefühle in der Magengegend sind wohl am ehesten mit Aufregung zu beschreiben. Schnell ist das Datenprisma
den individuellen Blickwinkeln angepasst. Man fühlt sich wie ein Kreuzritter
des Fortschrittes, der – statt in edler weißer Rüstung – nicht sein eisernes
Visier richtet, sondern den ersten Schritt zum Cyborg vollzieht. Auf den ersten
Blick wirkt die „Google Glass“ tatsächlich einer Star-Trek-Verfilmung der
1980er-Jahre entsprungen. Die Innenansicht offenbart den modernen Stand der
Technik, die sich mittlerweile bereits in Fernbedienungen und Waschmaschinen
befindet. Eine Dual-Core-CPU, zwei Kameras, WLAN und einige weitere
Kleinigkeiten. Am Auffälligsten sind das Daten-Prisma, auf dem die Mediendaten
visualisiert werden, sowie die Tonübertragung durch Knochenschall. Dadurch ist
es möglich, ohne Kopfhörer Töne direkt in das Innenohr zu senden.
Neue Freiheiten
Gesteuert wird die „Google Glass“ –
die erst in Kombination mit einem Smartphone ihr volles Potenzial entfalten
kann – mit Sprachkommandos. Da die Brille offiziell derzeit nur einem kleinen
Kreis ausgewählter Tester in den USA zur Verfügung steht beschränkt sich die
Spracherkennung auf ein amerikanisches Englisch. Mit einem Antippen des
Touchpads auf der rechten Bügelseite, gefolgt von einem simplen „Ok glass“,
erwacht die Brille aus ihrem energiesparenden Dornröschenschlaf. Der
Funktionsumfang reicht von Foto- und Videoaufnahmen über Navigation, einfache
Google-Websuche und Videotelefonie hin zu einem Textübersetzer. Sprachprobleme
im Urlaubsland gehören der Vergangenheit an. Man sieht auf einen Satz, die
eingebaute Kamera filmt ihn, erkennt ihn, übersetzt ihn und blendet das
Ergebnis im Sichtfeld ein – innerhalb von Sekundenbruchteilen.
Weitere Applikationen können jederzeit
installiert werden. Avanciert die Brille zum kommerziellen Markterfolg dürften
den Fantasien der Softwareentwickler keine Grenzen gesetzt sein.
Alte Ängste
Doch mit genau diesen Fantasien
beginnen die Probleme. Die DDR hat eindrucksvoll gezeigt, dass es sich für
einen Staat nicht rentiert, die eine Hälfte der Bevölkerung für die Überwachung
der anderen Hälfte zu bezahlen. Interessant wird es jedoch, wenn die
Überwachung ausgelagert und direkt selbst von den Bürgern übernommen werden
kann. In Zeiten, in denen Schlagwörter wie „NSA“ und „Privatsphäre“ durch die
Medienblätter geistern, stimmen zwei Hochleistungskameras inkl. Mikrofon, die
in einem Brillengestell edel verpackt sind, misstrauisch. Befeuert wird dieser
Argwohn durch Googles ungeschickte PR-Strategie. Wieso Google seit 18. Dezember
2013 – am Höhepunkt der Privatsphärendebatte – seinen Brillen eine Funktion
spendiert, durch die Fotos nicht nur mit dem öffentlich hörbaren Sprachkommando
„Ok glass, take a picture“ geschossen werden können, sondern nun ein längeres
Augenzwinkern ausreicht, bleibt ein Rätsel. Die Tatsache, dass die gesamte
Kommunikation der Datenbrille ausschließlich über Googles eigene US-Server
läuft, ist ebenfalls nicht als zufällig zu interpretieren. Die Brille verfügt
über einen eingebauten Speicher, von denen 12 GB nutzbar sind. Google
synchronisiert alle Mediendaten unverzüglich mit „Google Drive“, der Google
Cloud. So wird einerseits knapper Speicherplatz auf der Brille gespart,
andererseits liegen alle geschossenen Bilder direkt auf Servern in den
Vereinigten Staaten. Ob und wie diese Daten ausgewertet werden, beziehungsweise
wer darauf Zugriff hat, bleibt das Geheimnis des Großkonzerns.
Viele Risiken, viele Chancen
In allen bisherigen Artikeln über
diese neue Generation der „Datenbrillen“ vermisst man eines: Ein klares
Bekenntnis für oder gegen den Einsatz dieser Technik. Es ist einfach, in einer
endlosen Auflistung über Vor- und Nachteile zu sinnieren und sich am Ende zu
einem „Jein“ durchzuringen. Nach unzähligen Diskussionen, auf Basis meiner
persönlichen Eindrücke und meiner technischen Erfahrung als Softwareentwickler
ist meine Schlussfolgerung: Ja!
Die Chancen, die sich – menschlich,
wirtschaftlich, im Bereich der Bildung – ergeben, indem Information derart
präsent und individuell aufgearbeitet wird, sind immens. Diese Brillen
verändern nicht nur unseren Umgang mit Wissen, sondern haben das Potenzial,
unser alltägliches Leben qualitätsvoll zu verbessern.
Die offenen Fragen müssen angesichts
dessen umso dringender geklärt werden. Eine neue Form der Transparenz, welche
Daten gesammelt, ausgewertet und zugänglich gemacht werden, ist unabdingbar. Die
Diskussion auf politischer Ebene, ob – bei einer angenommen Massenverbreitung
von 10 % - das damit aufgespannte Netz mobiler Videokameras von Staatsorganen
für Fahndungen verwendet werden darf, wird uns eingies abverlangen. In einer
Welt latenter Terrorismus-Hysterie, in der die Grenzen zwischen berechtigter
Privatsphäre und gerechtfertigtem staatlichen Interesse seit 13 Jahren immer
mehr verschwimmen, kommen wir um eine Neudefinition nicht herum.
Augenscheinlich ist: Unser Misstrauen gegenüber den technischen Möglichkeiten
spiegelt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Regierungen, Geheimdiensten
und internationalen Großkonzernen wieder. Dieses Misstrauen wird nicht
aufgelöst, indem wir uns hervorragenden technischen Entwicklungen wie der
„Google Glass“ verweigern. Die Fehlentwicklung, auf die wir ängstlich wie ein
Kaninchen auf die Schlange starren, liegt auf politischer Ebene, nicht in der
Technik. Gelingt es uns als Gesellschaft nicht, eine Trendwende herbeizuführen,
sind die kommenden Silvesterpartys nutzlos. Dann sitzen wir im Jahr 1984 fest
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